Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.
Querdenker
– Ein Loblied auf den Störenfried
Sie
sind eigensinnig, unbeirrbar und kochen lieber ihr eigenes Süppchen.
Weil sie sich dem Mainstream widersetzen, werden sie ausgegrenzt,
riskieren Karriere und Ansehen. Dabei brauchen wir Querdenker: Gerade
weil sie nerven, helfen sie uns, die Welt zu verstehen
Von
Jürgen Schaefer, Geo, 01.02.2010
Querdenker
können nichts dafür: Eine Idee befällt einen Menschen wie eine
Geisteskrankheit. Unter ihrem Einfluss beginnt seine Realität sich
zu verformen, bis der Betroffene Dinge sieht, die niemand vor ihm
sah.
Gekrümmte
Räume. Einen Seeweg nach Indien. Das Äffische im Menschen.
Spätestens
dann sollte er in Gesprächen vorsichtig sein. Je größer ein
Gedanke, desto größer die Einsamkeit in seinem Gefolge. Manche Idee
wird zum Parasiten, der sich eines Menschen bemächtigt, ihm alle
Energie, alle Zeit, sein Leben abverlangt.
Forscher
streben ihr Schaffen lang nach dem einen, nach ihrem genialen
Gedanken. Doch ihm zu folgen erfordert Mut: Es ist, wie auf einen
fahrenden Zug aufzuspringen, ohne zu wissen, wohin er fährt. Nach
Stockholm? Oder nach Sibirien?
Nobelpreis
oder Verbannung? Für die Geologin Gerta Keller bleibt die Frage
offen. Seit 25 Jahren schlägt sie ihr Geologenhämmerchen an einem
granitharten Dogma stumpf. Für manche hat sie das zur Heldin
gemacht. Für die meisten ihrer Kollegen ist sie eine Nervensäge.
Keller
sieht aus, als hätte sie sich seit Woodstock nicht mehr umgezogen;
gelb getönte Brille, Flatterbluse, graue Spaghettilocken. Sie stammt
aus Liechtenstein und spricht Englisch mit einem knarzenden Schweizer
Akzent. „Absolute Wahrheit“, sagt sie, „gibt es nur in der
Mathematik. In der Geologie dagegen hilft nur, neugierig zu bleiben.
Offen für Neues.“
Keller
lehrt an der amerikanischen Princeton-Universität, auf einem Campus
wie ein englisches Schloss, mit Sandsteintürmchen und
Schindeldächern. Die Büsche im Park werden mit der Schere getrimmt.
Im Innern quietschen Eichentüren; ein Ort, an dem seit Generationen
Geologen versteinern. Im Erdgeschoss verstaubt ein
Dinosaurierskelett. Die Frage, warum diese Riesenreptilien
ausgestorben sind, galt unter Geologen lange als geklärt. Bis Gerta
Keller kam.
Jedes
Kind kennt die Geschichte: Vor 65 Millionen Jahren stürzte ein
Monstermeteorit auf die
Erde.
Er schlug im Golf von Mexiko einen 180 Kilometer breiten Krater und
wirbelte so viel Staub auf, dass sich der Himmel verdunkelte.
Pflanzen verwelkten, die Dinos verhungerten.
„Eine
attraktive Idee, sexy und einfach zu begreifen“, räumt Keller ein.
Lächelt. „Aber leider falsch. Das haben wir längst bewiesen.“
Für die Demission der Dinos, glaubt sie, waren massive
Vulkanausbrüche und Meteoritenschauer verantwortlich. Das Sterben
zog sich über zwei Millionen Jahre hin. Spekulationen über einen
jahrelangen Winter, der dem Meteoriteneinschlag folgte, wären damit
hinfällig. Immer wieder hat es in der Erdgeschichte Massensterben
gegeben; die Frage nach deren Warum müsse komplett neu gestellt
werden, sagt Gerta Keller.
1985
präsentierte sie ihre Theorie auf einem Geologen-Kongress. „Ich
wurde als ‚George Keller‘ angekündigt, so unbekannt war ich.“
Das sollte sich ändern. „Schon bei der Einleitung standen die
ersten am Saalmikrofon Schlange, um zu widersprechen.“ Kellers
Vortrag ging im Geschrei der Gegner unter.
„Ich
dachte: Ach du Scheiße!“, erinnert sich Gerta Keller. „Aber es
kam alles noch schlimmer.“ Inzwischen weiß sie, was der irische
Dramatiker George Bernard Shaw gemeint haben könnte, als er 1917
schrieb: „Am Beginn jeder großen Wahrheit steht immer eine
Gotteslästerung.“
Kellers
Gegenspieler war Luis Alvarez, Nobelpreisträger. „Einer dieser
Männer, die glauben, sie könnten über Wasser gehen“, spottet
Keller. Ein zorniger Prophet des Meteoriten. „Einmal, auf einem
Kongress, stellte Alvarez sich mir in den Weg und sagte: ‚Gerta,
nerv uns nicht mit deinen Zahlen. Wir brauchen sie nicht. Wir wollen
sie nicht‘ “, erzählt Keller. „Wäre ich da nicht schon
unkündbare Professorin hier in Princeton gewesen, hätte das meine
Karriere beendet.“
seitdem
tobt der streit. Alvarez ist tot, doch die weitaus meisten Geologen
unterstützen bis heute seine Hypothese. „Viele sind Mitläufer“,
beharrt Keller. Warum ist sie so hartnäckig? Will sie kein Einsehen
haben? „Jetzt kann ich nicht mehr aufgeben, dafür ist es zu spät“,
sagt sie seufzend.
Die
Übermacht der Meteoritenfans ist drückend. Sie sitzen in den
Gremien, die Forschungsgelder genehmigen. Sie entscheiden als
Experten, ob Kellers Zahlen publiziert werden oder nicht. „Manche
Studenten sagen mir: ‚Gerta, ich weiß, dass du recht hast. Aber
mit deiner Theorie kriege ich nirgends einen Job.‘ “ Die
Gravitation der Masse.
„Im
Mittelalter“, sagt Gerta Keller, „hätten sie mich auf dem
Scheiterhaufen verbrannt.“
Querdenker.
Querulant. Störenfried: Neugier und Forscherdrang treiben Menschen
immer wieder auf die Suche nach dem Neuen. Doch wehe dem, der es
findet.
1780
experimentierte Luigi Galvani mit Froschschenkeln und entdeckte die
Bio-Elektrizität. Das Establishment verspottete ihn als
„Froschtanzlehrer“. Alfred Wegener kam 1910 den sich
verschiebenden Kontinentalplatten auf die Spur. Die Geologen höhnten,
Wegener sei von der „Polschubseuche“ befallen.
1848
forderte der ungarische Arzt Ignaz Semmelweis, dass Ärzte, nachdem
sie Leichen seziert hatten, sich die Hände waschen sollten, bevor
sie bei einer Geburt assistierten. In seiner Abteilung sank dadurch
die Müttersterblichkeit von zwölf auf zwei Prozent. Seine Kollegen
verachteten ihn gleichwohl.
heute
wäre so etwas nicht mehr möglich? Erst 1984 entdeckte der
australische Mediziner Barry Marshall, dass nicht Stress, sondern
Bakterien Magengeschwüre verursachen. Niemand glaubte ihm. In seiner
Verzweiflung griff Marshall zum Becher mit dem Bakteriensud, um sich
erst zu infizieren und dann selbst zu heilen.
Semmelweis
gilt heute als Erfinder der Hygiene; Marshall als Held der
Magenkranken. Marshall wurde nach Stockholm eingeladen: Er erhielt,
2005, den Nobelpreis für seine Entdeckung. Semmelweis starb in der
Verbannung: im Irrenhaus.
Geniale
Ideen retten Leben. Doch dafür braucht es meist einen mutigen
Menschen, der bereit ist, seine Idee eigenhändig durch ein
Sperrfeuer von Hass und Häme zu tragen. Warum ist das so? Warum
machen wir Querdenkern das Leben so schwer? Weil wir uns damit selbst
das Leben leichter machen.
Die
Macht der Mehrheit ist so stark, dass wir uns beugen, selbst wenn uns
niemand zwingt. Das zeigt ein Experiment aus den frühen 1950er
Jahren: Wir verraten unsere Überzeugung mitunter, nur um in einer
Gruppe nicht -allein zu stehen – selbst wenn wir dieser Gruppe
nicht einmal wirklich angehören.
Der
Test war kinderleicht: Solomon Asch, Professor für Psychologie an
der US-amerikanischen Harvard-Universität, zeichnete auf einen
Stapel Papierblätter vier Striche, von denen jeweils zwei gleich
lang waren. Als er die Blätter Versuchspersonen vorlegte, waren 99
Prozent von ihnen in der Lage, die gleich langen Striche zu
identifizieren.
Dann
änderte er den Versuchsaufbau.
Statt
einzeln wurden die Probanden nun in Gruppen zum Strichtest geladen.
Doch nur einer aus der Gruppe war Versuchsperson; die übrigen waren
Eingeweihte, die kollektiv falsche Antworten gaben. Die echten
Probanden waren verunsichert – und liefen in Scharen zur Mehrheit
über. Nur jeder Vierte blieb standhaft bei seiner richtigen Meinung.
Solomon
Asch, exilierter polnischer Jude, sah seine schlimmsten Befürchtungen
bestätigt.
Er
hatte herausfinden wollen, ob Menschen ohne Not zu Mitläufern
werden. Sein Experiment wurde seither Hunderte Male überall auf der
Welt wiederholt, immer mit demselben Ergebnis: Wir sind zum Schaf
geboren.
Aber
was haben wir davon, dass wir uns so leicht unterordnen – statt
einfach die Wahrheit zu sagen?
Diese
Frage trieb 2005 den Hirnforscher Gregory Berns von der
Emory-Universität im US-Bundesstaat Georgia um. Berns, 45,
beschäftigt sich seit Jahren mit Querdenkern, die er „Ikonoklasten“
nennt: Bilderstürmer. Auch er wiederholte das Asch-Experiment, ließ
dabei das Gehirn des Probanden im Computer-tomografen analysieren.
Seine Forschungsergebnisse werfen beunruhigende Fragen auf.
„Das
Gehirn ist ein träges Stück Fleisch“, sagt Gregory Berns und
grinst. Über den Bildschirm auf Berns’ Schreibtisch flackern
Computertomografien. Das Gehirn erscheint als graues Bergmassiv, auf
dem bunte Explosionen aufblitzen. Der erste Teil seiner Analyse der
Überläufer ist relativ einfach: „Dissens ist anstrengend.
Diskussionen sind anstrengend.“
Anstrengung
ist allerdings etwas, was unser Gehirn unter allen Umständen zu
vermeiden sucht. In Wahrheit wäre die Glühbirne in unserem Kopf,
die bis zu 20 Prozent unseres körpereigenen Brennstoffs verbraucht,
gern eine Energiesparlampe. Das zeigen Hirnscans: Wenn wir uns zum
Beispiel von einem Experten beraten lassen, schaltet unser Gehirn
schon mal auf Ruhezustand. „Es ist, als ob wir das selbstständige
Denken einfach abstellen“, erläutert Berns, selbst erstaunt über
die Ergebnisse.
Noch
eindeutiger waren die Beobachtungen beim Asch-Experiment. Bei den
Überläufern herrschte Funkstille in Regionen des Frontallappens, wo
Entscheidungen getroffen werden. Aktiv waren dagegen Regionen in den
Scheitellappen des Gehirns, die mit der Wahrnehmung beschäftigt
sind. Berns’ Erklärung: Die Überläufer wurden von ihrem eigenen
Gehirn hinters Licht geführt. „Die falsche Antwort der Gruppe
projizierte im Gehirn des Probanden ein falsches Bild von den
Strichen auf dem Papier.“
Eine
perfekte Selbsttäuschung: Den Probanden war gar nicht bewusst, dass
sie sich der Übermacht beugten. Aber wenn wir gar nicht merken, dass
wir von der Mehrheit erdrückt werden – wie können wir uns dann
dagegen wehren? Welchen Wert hat dann unsere Stimme in einer
Abstimmung, die von einer Mehrheit dominiert wird?
Wo
bleibt unser freier Wille?
„Freier
Wille? Das werde ich oft gefragt“, sagt Berns. „Vieles, was im
Gehirn passiert, können wir von außen beeinflussen und vorhersagen.
Aber es gibt ein Grundrauschen, in das wir nicht eindringen. Das sind
plus/minus 20 Prozent. Da steckt für mich der freie Wille.“
Doch
wehe, wir machen davon Gebrauch: Dann bestraft uns unser eigenes
Gehirn dafür.
Das
zeigen die Hirnscans jener Probanden, die sich gegen die Gruppe
stellten. Dort registrierte Hirnforscher Berns ein hektisches
Störfeuer im Mandelkern. Der Mandelkern sitzt tief im Innern des
Gehirns und wird aktiviert, wenn Gefahr droht. Dann setzt er
Stresshormone frei: Wir bekommen schweißnasse Hände, der Blutdruck
steigt, der Herzschlag beginnt zu rasen.
All
das haben Querdenker zu ertragen, wenn sie ihre Stimme erheben. An
der Interpretation seiner Computerbilder hat Berns keinen Zweifel:
„Das ist Angst, was wir hier sehen.“
Es
ist diese Angst, die aus den meisten Menschen Konformisten macht.
Aber ist diese Angst überhaupt berechtigt?
„Wir
lieben Querdenker! Aber erst, wenn sie mindestens seit 50 Jahren tot
sind“, spottet der kalifornische Sozialpsychologe Elliot Aronson,
Autor des Standardwerks „The Social Animal“. Dass Dissidenten wie
die Geologin Gerta Keller bittere Schmähungen zu ertragen haben,
wundert ihn nicht. „Wir mögen es nicht, wenn jemand uns Dinge
sagt, die nicht in unser Weltbild passen. Schon in der Antike wurde
der Überbringer der schlechten Nachricht getötet.“
Aber
wieso sollten wir eine neue Idee überhaupt als „schlechte
Nachricht“ interpretieren? Der Soziologe Peter Marris stellte in
den 1970er Jahren die Theorie auf, dass Menschen, die sich von ihrem
lieb gewonnenen Weltbild verabschieden müssen, echte Trauer
empfinden, ähnlich wie beim Verlust eines Angehörigen.
Selbst
in der Krise werden wir nicht offener für Neues, im Gegenteil: Nur
wenn es aufwärts geht, verspricht Veränderung „Fortschritt“.
Geht es abwärts, wird sie als Bedrohung empfunden.
Deswegen
meiden wir jene, die radikale Veränderung fordern. Querdenker stören
in unserem Streben nach Harmonie wie eine Pauke im Streichquartett.
Deswegen müssen sie sich oft entscheiden: entweder von allen
geschätzt zu werden und erfolgreich zu sein – oder ihren Weg
allein zu gehen.
Wie
der Physiker Ronald Mallett. Sein Leben war über Jahrzehnte geprägt
von Einsamkeit: „Ich konnte mit niemandem über meine Zeitmaschine
reden. Das wäre einfach zu gefährlich gewesen.“
„Eine
Reise durch die zeit“ nennt Ronald Mallett das Leben. Die Reise
seines Vaters endet
am
22. Mai 1955 in der New Yorker Bronx; er stirbt im Schlaf. Der
schwarze Fernsehmechaniker Boyd Mallett hatte Poesie und Opernmusik
geliebt, Kette geraucht und wurde nur 33 Jahre alt. Er hinterlässt
eine Frau und vier Kinder. Ronald kann den Tod des Vaters kaum
verwinden. Bis ihm ein Comicbuch in die Hände fällt, die Nr. 133
der Reihe „Classics Illustrated“: „Die Zeitmaschine“, von
H.G. Wells.
Das
Titelbild zeigt ein fliegendes Motorrad mit Schläuchen und Kabeln,
auf dem ein Mann sitzt, der das Gefährt an zwei Hebeln durch Raum
und Zeit steuert. Ronald Mallett ist zwölf Jahre alt, er geht in den
Keller und öffnet die Werkzeugkiste seines Vaters. Aus alten Röhren,
Schläuchen und Isolierband bastelt er abendelang an einer Maschine,
die der Zeichnung ähnlich sieht. Als er fertig ist, zieht er am
Hebel. Nichts
passiert.
„Ich war enttäuscht“, erinnert sich Mallett, „doch nicht
entmutigt.“
Als
Teenager versucht er, Einstein zu lesen, „bis ich Kopfweh bekam“,
schließlich studiert er Physik, wird habilitiert. Für all dies,
sagt Ronald Mallett, hat es nur einen einzigen Grund gegeben: den
Traum, zurückzugehen in die Bronx, vor dem 22. Mai 1955, um seinen
Vater zu warnen. „Geh zum Arzt“, will er ihm sagen, „und hör
auf zu rauchen.“
Mallett
ist heute 64 Jahre alt, doch er hat noch immer Mühe, seine Gefühle
zu kontrollieren, wenn er von seinem Vater erzählt. Er hat dessen
Grab nie besucht. Er will sich mit der Finalität des Todes nicht
abfinden.
In
all den Jahren verliert er sein Ziel nie aus den Augen. Entwirft, in
nächtelangen Kalkulationen zur Musik von Wagners „Ring des
Nibelungen“, eine Apparatur, der es gelingen soll, subatomare
Partikel auf eine Zeitreise zu schicken, ohne dabei mit Einsteins
Relativitätstheorie zu kollidieren. Die Zeitmaschine besteht aus
zwei gegenläufigen ringförmigen Lasern, in deren Energiefeld Raum
und Zeit so weit gekrümmt werden, bis eine Zeitspirale entsteht.
Jedenfalls auf dem Papier, in den kunstvoll ersonnenen mathematischen
Gleichungen.
jahrzehntelang
hält Mallett die Forschung geheim: „Es war schwer genug, als
Afroamerikaner eine Professur für Physik zu bekommen“, sagt er.
„Das Thema ‚Zeitreise‘ anzusprechen wäre professioneller
Selbstmord gewesen.“ Im April 2001 wagt sich Mallett an die
Öffentlichkeit. „Es hat lang gedauert, die Furcht zu überwinden,
dass Kollegen mit dem Finger auf mich zeigen und sagen: ‚Der ist
nicht ganz dicht!‘ “, sagt Mallett. Doch inzwischen wurde er an
der University of Connecticut zum Professor für Theoretische Physik
berufen. Auf einem Kongress in Michigan präsentiert er seine
Kalkulationen. Er sieht, wie die Kollegen gleich anfangen, eifrig
mitzuschreiben.
Gespannt
wartet er auf die Reaktion. Aber es ist wie damals, als er am Hebel
jener Apparatur gezogen hat, die er sich als Junge im Keller
gebastelt hatte: Nichts passiert.
„Das
Publikum reagierte verhalten“, erinnert sich Mallett. Seitdem kommt
er nicht mehr voran. „Wir bräuchten zehn Millionen Dollar, um die
Theorie in einem ersten Versuch zu testen“, schätzt der Physiker,
„doch wenn wir uns um Forschungsgelder bemühen, heißt es nur:
Nett! Interessant! Aber für uns leider nicht ernsthaft genug.“
Ist
Ronald Mallett ein Querdenker oder einfach nur ein Träumer? Ein
genialer Kopf, der am verbohrten Establishment scheitert? Oder der
Beweis dafür, dass die Qualitätssicherung in der Forschung
funktioniert? An den Grenzen der menschlichen Erkenntnis warten ja
nicht nur spektakuläre Entdeckungen – dort sprießen, in einem
Biotop aus Wahnsinn, Verzweiflung und Verschwörung, auch schillernde
Theorien.
Die
geologin Gerta Keller, unfreiwillig zur Schutzpatronin aller
Dinosaurier-Dissidenten aufgestiegen, bekommt seitenlange Traktate
mit Szenarien über den Untergang der Riesenechsen zugeschickt. Ein
Arzt schreibt ihr, Eierdiebe seien der Grund: Die Saurier waren
unfähig, ihr Gelege zu vergraben. Der Mediziner hat die Theorie
experimentell getestet und dies auf Fotos dokumentiert: Er hat
Hühnereier am Strand ausgesetzt. Jene in offenen Nestern waren am
nächsten Morgen weg, die eingegrabenen noch da. Was zu beweisen war!
„Nicht
jeder Spinner ist ein Querdenker. Wer nicht im Wissen zu Hause ist,
kann nicht quer-denken“, wagt der Berliner Einstein-Biograf Jürgen
Renn eine Definition. Renn beschäftigt sich am Max-Planck-Institut
für Wissenschaftsgeschichte mit der Frage, wie das Neue in die Welt
kommt. „Wie funktionieren wissenschaftliche Revolutionen?
Querdenker sind ein wesentlicher Moment dieser Entwicklung; sie
spielen eine Rolle bei der Entstehung neuer Perspektiven.“
Perspektivenwechsel
– oft ist es nur ein neuer Blick auf Bekanntes, der eine Umwälzung
in Gang setzt: Der Astronom Johannes Kepler bediente sich, als er die
Laufbahn des Mars untersuchte, der Beobachtungen seines Widersachers
Tycho Brahe. Doch anders als Brahe konnte Kepler die scheinbar
erratische Bahn erklären, indem er mit einer mehr als
tausendjährigen Tradition brach und die Bahnen der Himmelskörper
nicht als Kreise, sondern als Ellipsen auffasste.
Für
Brahe und die meisten Zeitgenossen war schon die Idee von Kopernikus,
zwar bei der Kreisbahn zu bleiben, aber die Sonne ins Zentrum des
Weltsystems zu rücken, zu wild, um wahr zu sein – dabei war sie
schon 1800 Jahre alt. Der griechische Astronom Aristarch von Samos
hatte bereits im dritten Jahrhundert vor Christus herausgefunden,
dass die Erde um die Sonne kreist. Doch sein Weltbild wurde verworfen
und dann vergessen.
Das
richtige Timing ist entscheidend für den Erfolg einer neuen Idee.
„Die historische Situation muss den Perspektivwechsel zulassen“,
erklärt Historiker Renn, der Querdenker in drei Kategorien sortiert:
die Viel-zu-Frühen, deren Denken wirkungslos verpufft, wie
Aristarch. Dann die Visionäre, die zwar angefeindet werden, deren
Ideen sich aber später durchsetzen, wie Kopernikus. Und die
Ruhmreichen, die genau zur richtigen Zeit kommen. „Hätte Einstein
seine Relativitätstheorie 50 Jahre früher aufgestellt, wäre er im
Irrenhaus gelandet“, vermutet Renn. Querdenker sind, bei aller
Genialität ihrer Einzelleistung, eben auch ein Produkt ihrer Zeit –
und damit nicht unersetzlich: Das zeigen Mehrfacherfindungen wie das
Telefon und die Glühbirne. Ein Paradigmenwechsel ist meist nicht an
einen bestimmten Helden gebunden. Die Industrielle Revolution hätte
auch stattgefunden, wenn James Watt nicht die moderne Dampfmaschine
erfunden hätte.
Doch
wie lässt sich überhaupt erkennen, ob eine Idee genial ist – oder
genial daneben? Und wer soll das entscheiden? Für die allwissende
Nachwelt ist es einfach, Galileo für genial zu halten. Die
Zeitgenossen in ihrer Froschperspektive konnten nicht wissen, ob der
Astronom nicht doch in Wahrheit ein Märchenerzähler war.
„Nature“,
eines der weltweit wichtigsten wissenschaftlichen Journale, vertraut
bei der Unterscheidung zwischen „Geistesblitz“ und „Irrlicht“
auf den Sachverstand seiner rund 30 Redakteure und auf das System der
peer review, bei dem -Experten aus dem jeweiligen Feld eingereichte
Arbeiten begutachten.
95
Prozent aller Thesenpapiere werden abgelehnt – die meisten übrigens
nicht, weil sie zu revolutionär sind, sondern weil sie zu wenig
Neues bieten.
Auch
Forschungsgelder werden stets erst nach einem Expertengutachten
vergeben. Das stellt sicher, dass kein Geld in einen Spinner
investiert wird, der Hühnereier am Strand vergräbt. Doch gibt es
wohl kaum einen Wissenschaftler, der nicht schon einmal an der Peer
Review verzweifelt ist – nicht nur profilierte Dissidenten wie
Gerta Keller und Zeitmaschinenbauer wie Ronald Mallett.
Auch
die Erfinder des Rastertunnelmikroskops scheiterten zunächst, weil
ein Experte ihre Arbeit „nicht interessant genug“ fand. Das
Nobelpreiskomitee war einige Jahre später anderer Meinung.
Das
System der Peer Review ist per Definition fortschrittsfeindlich: Als
Maßstab für die Zukunft gilt der Status quo. Manche Experten, die
zur Begutachtung neuer Ideen herangezogen werden, haben ihr
Forscherleben in eine Theorie investiert – die durch das
Thesenpapier auf ihrem Schreibtisch infrage gestellt wird.
Die
Meteoritentheorie hat Luis Alvarez weltberühmt gemacht, doch setzen
sich Gerta Kellers Thesen durch, wird Alvarez’ Porträt aus der
Ruhmeshalle der Geologie in den Keller verbannt, in dem die staubigen
Gesteinsproben lagern. Mit solch einer Herausforderung tun sich nicht
nur Wissenschaftler schwer: „Dieser Junge hat überhaupt kein
Talent! Sagt ihm, dass er mit dem Malen aufhören soll“, räsonierte
der Maler Édouard Manet, einer der letzten Realisten, über
Pierre-Auguste Renoir, den frühen Impressionisten.
In
der Wissenschaft führt das Expertensystem zu einer „gewissen
inneren Trägheit“, wie Historiker Jürgen Renn attestiert – die
aber nicht nur schlecht ist: „Intelligente Systeme wachsen durch
Erfahrung. Dass dabei die Masse des Bekannten über das Neue
überwiegt, gibt dem System Stabilität.“
Das
gilt auch für das „intelligente System Mensch“, das sich nicht
beliebig verändern kann. Wer heute an Gott glaubt, morgen an Darwin
und übermorgen an Ufos, wird nicht ernst genommen. Und eine
Wissenschaft, die sich von jeder neuen Nachricht in ihren Grundfesten
erschüttern ließe, wäre als Instrument zum Verständnis der Welt
bald nutzlos.
Die
Kunst liegt darin, sicher zu stehen und zugleich beweglich zu
bleiben. Die Wissenschaft muss Antworten geben – ohne aufzuhören,
weiter Fragen zu stellen.
gefahr
droht, wenn ein intelligentes System erstarrt – etwa, wenn eine
wissenschaftliche Disziplin von einem Dogma dominiert wird wie eine
Sekte. Sozialpsychologen nennen dieses Phänomen „Gruppendenken“:
Die Gruppe lebt abgeschottet von der Realität, sucht nur noch
Bestätigung für das Dogma. „Konsenswächter“ stöbern
Querdenker auf und bekämpfen sie. Die Erstarrung führt schließlich
zum Versagen des Systems. Zum Beispiel, wenn die Elite der Ökonomie
in autistischer Weltabgeschiedenheit eine Zukunft ohne Rezessionen
herbeirechnet, während sich vor ihren Augen die schlimmste
Finanzkrise seit 80 Jahren entfaltet.
Wer
den Wirtschaftsweisen widersprach, wurde ausgegrenzt. Wie etwa der
Ökonom Nouriel Roubini, der schon 2006 zu fragen wagte, wann die
Immobilienblase in den Vereinigten Staaten platzen werde. Seine
Kollegen verspotteten ihn als „Dr. Doom“, „Doktor Untergang“.
Da
waren Konsenswächter am Werk: Wer sich seiner Antwort zu sicher ist,
duldet keine Fragen mehr. Denn Fragen sind gefährlich: Sie können
Autorität zerstören, können Denkmäler stürzen, Denkblasen
zerplatzen lassen. Fragen sind die schärfste Waffe des Querdenkers.
Werden
Computer erst dann intelligent, wenn sie anfangen, Sex zu haben?
Brauchen wir eine neue Physik, um die Navigation von Brieftauben
erklären zu können? Sind Ureinwohner meist kriegerisch und
obendrein noch Umweltschweine?
„Mit
oder ohne Zucker?“ Glucksend schiebt John Brockman seinem Besucher
einen Espresso
über
den Glastisch. Über die Macht der Fragen kann er stundenlang
diskutieren. Mit den richtigen Fragen zur richtigen Zeit hat er es zu
Ruhm und Reichtum gebracht: Als Literaturagent wissenschaftlicher
Shootingstars und von Nobelpreisträgern. Büro an der New Yorker
Fifth Avenue, Landhaus in Connecticut.
Er
tritt im weißen Panamahut auf und nennt sich „Impresario“. Doch
seine unruhigen Augen betrügen die große Geste. Er macht den
Eindruck eines Menschen, der sich danach sehnt, dass ihm sein Hirn
einmal Ruhe gönnte. So viele Fragen!
Gibt
es eine göttliche Wissenschaft? Sollen wir die Schule abschaffen?
Ist es egal, wie Eltern ihre Kinder erziehen?
Fragen
sind das Hämmerchen, mit dem wir klopfend die Statik der
Stützpfeiler prüfen, auf denen wir unser Weltbild errichten. Hält
das Gemauerte? Oder klingt es doch ziemlich hohl?
1991
beschrieb John Brockman in einem Essay eine Bewegung, die er third
culture nannte, und forderte eine neue intellektuelle Kultur. Der
Dialog aller Wissenschaften soll Forscher zwingen, ihr
Spezialistenghetto zu verlassen, die Welt aus einem anderen
Blickwinkel zu betrachten: Es ist der Versuch, Querdenken als Prozess
zu definieren, nicht als individuelle Gabe. Seitdem streiten sich
unter dem alten Ahornbaum hinter Brockmans Landhaus regelmäßig
Geologen mit -Genetikern, Psychiater mit Informatikern, Kernforscher
mit Evolutionsbiologen über die letzten Menschheitsfragen.
Sollte
das elitär klingen, ist das durchaus gewollt. „Wenn wir ehrlich
sind, übernehmen auf der Welt doch sehr wenige Menschen die
Denkarbeit für den Rest von uns“, sagt Brockman. „Es ist nicht
leicht, einen genialen Gedanken zu haben. Manche haben einen einzigen
in ihrem Leben. Die meisten haben nie einen.“ Die Stärke der
dritten Kultur, glaubt Brockman, liegt darin, dass sie den Streit
darüber aushält, welche Ideen ernst zu nehmen sind. Ihre Tugend ist
die Aufgeschlossenheit gegenüber allem Neuen. Aber darf man wirklich
alles fragen? Manche Fragen sind schwer auszuhalten, wie die Sonde
eines Zahnarztes, die tastend nach einer Stelle sucht, an der sie
Schmerz verursacht.
Wird
Homosexualität durch eine Infektionskrankheit ausgelöst? Haben
schwarze Männer -einen höheren Testosteronspiegel als weiße?
Leidet die durchschnittliche Intelligenz der Menschen in westlichen
Ländern darunter, dass dumme Menschen mehr Kinder haben als kluge?
„gefährliche
ideen“ nannte der Psychologe Steven Pinker diese Fragen, mit denen
er 2006 das „Edge“-Jahrbuch eröffnete – „gefährlich nicht,
weil sie falsch sind, sondern weil sie wahr sein könnten“. Pinker
verteidigt die Rechte des Häretikers. „Wenn eine Idee wirklich
falsch ist, muss man sie ans Licht bringen, um
das
zu erkennen.“
Unter
dem Schutz dieser Freiheit sprießen auf der Edge-Spielwiese auch
Gewächse, deren Genuss manchem Schwindel und Übelkeit verursachen.
Biochemiker Craig Venter fantasiert darüber, dass es wünschenswert
wäre, das menschliche Genom zu manipulieren. Und der Physiker
Freeman Dyson schreibt, dass
alle
Szenarien zum Klimawandel „total übertrieben“ seien.
Muss
man wirklich alles infrage stellen? Was, wenn Querdenker den
Fortschritt aufhalten? Alle nerven und alles blockieren? Gerade dann
sind Querdenker unverzichtbar, sagt die kalifornische Psychologin
Charlan Nemeth eindringlich. Denn dann können sie sogar Leben
retten.
Zwölf
Männer sitzen zu Gericht über einen jungen Einwanderer aus Puerto
Rico, der seinen Vater erstochen haben soll. Seit Stunden sind sie in
ihrer Kammer eingeschlossen, und die Mehrheit weiß längst, was sie
will: Der 18-Jährige soll hingerichtet werden. Nur der Geschworene
Nummer acht stellt sich quer. Er sät Zwei-fel an den Beweisen,
zwingt die Runde zur Diskussion. Nach und nach gelingt es ihm, alle
anderen zu überzeugen. Am Ende wird der junge Mann freigesprochen.
Sidney
Lumets Filmklassiker „Die zwölf Geschworenen“ (mit Henry Fonda
in der Rolle der Nummer acht) von 1957 veranschaulicht dramatisch,
welchem Druck Querdenker in einer Gruppe ausgesetzt sind – und
welche Macht sie haben.
Daran
hat sich bis heute nichts geändert, sagt Charlan Nemeth, die seit 30
Jahren an der Univer-sity of California in Berkeley bei San Francisco
Rebellenforschung betreibt: „Wer eine Minderheitenmeinung vertritt,
wird abgelehnt und verspottet. Der Mehrheit ist nicht bewusst, dass
sie dem Querdenker eigentlich dankbar sein sollte.“
Nemeth
hat die Entscheidungsfindung bei Geschworenen erforscht und
festgestellt, dass Für und Wider eines Schuldspruchs ernsthafter
abgewogen werden, wenn sich die Gruppe uneins ist.
Sind
sich alle einig, wird „konvergent“ gedacht: Es werden vorwiegend
Argumente diskutiert, die den Konsens stützen. Querdenker
stimulieren dagegen „divergentes Denken“ und Kreativität; regen
dazu an, ein Problem von allen Seiten zu betrachten.
Das
nützt der Gruppe auch dann, wenn die Minderheitenmeinung falsch ist.
„Rebellen erhöhen eindeutig die Qualität einer Entscheidung.“
In
der Realität wird dies selten so gesehen. „Viele Organisationen
fordern Ideenreichtum, doch sie belohnen Anpassung.“ Egal ob an
Universitäten oder in Unternehmen, Nemeth registriert eine
Verschiebung im Diskurs: „Früher wurden Konformisten als Schafe
wahrgenommen, als Herdentiere. Heute nennen wir dasselbe Verhalten
‚Teamgeist‘.“ Widerstand gegen die Mehrheit wird als hinderlich
empfunden.
Wer
aber Kreativität fordert, braucht eine „Dissens-Kultur“, in der
Abweichler respektiert und geschützt werden, sagt Nemeth. Etwa durch
das Prinzip der Einstimmigkeit, bei dem ein Beschluss erst feststeht,
wenn alle zustimmen. Querdenker können dann nicht mehr als
„Wichtigtuer“ abgekanzelt werden. Sie müssen in die Diskussion
einbezogen, ihre Argumente gehört werden. Streit um des Streitens
willen lohnt jedoch nicht: „Rollenspiele mit einem Advocatus
Diaboli funktionieren nicht.“ Nur ein echter Querdenker, der das
Gewicht seiner persönlichen Integrität in die Waagschale wirft,
provoziert echte Nachdenklichkeit: „An einem Märtyrer kommt man
nicht so leicht vorbei.“
Werden
wir zum Märtyrer geboren – oder dazu gemacht? Die Geologin Gerta
Keller sagt, sie hatte nie die Absicht, ihre Karriere dem Streit über
das -Ende der Dinosaurier zu opfern. Wie hat sie trotzdem so lange
durchgehalten?
„Ich
stamme aus den Schweizer Bergen“, sagt sie. „Streitbares
Bergvolk. Wir sind dickschädelig.“ Sie lacht. Früher hat sie die
Auseinandersetzung belastet, heute wirkt sie federleicht.
Was
macht Menschen zu Querdenkern? Die Psychologin Charlan Nemeth hat
über drei Jahre hinweg Nobelpreisträger für Physik und Chemie
beobachtet und interviewt, um dem Geheimnis ihrer Genialität auf die
Spur zu kommen. „Eine große Unabhängigkeit“ macht sie als
herausragendes Charaktermerkmal aller aus: „Sie wussten schon als
Kind, dass Lehrer sich irren können. Sie gehen ihren Weg, und es ist
ihnen egal, dass die Mehrheit glaubt, sie würden ihre Zeit
verschwenden.“
Der
wichtigste Wesenszug aber ist die Lust, hinter die Dinge zu schauen.
„Neugier kann ein phänomenaler Quell des Glücks sein“, glaubt
Charlan Nemeth, „weil sie unsere Welt immer ein Stück größer
werden lässt.“
Aber
Neugier, die Tugend der Kinder, kann uns teuer zu stehen kommen: Sie
verlangt von uns den Mut, den sicheren Boden der eigenen
Weltgewissheit aufzugeben und sich einem schwankenden Schiff
anzuvertrauen, ohne zu wissen, wohin der Wind es treiben wird.
Neugier ließ Christoph Kolumbus über den Atlantik segeln.
Vielleicht
ist es das, was Querdenker auszeichnet: Sie sind mutig genug, ihrer
eigenen Neugier zu folgen.
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