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Jürgen Schaefer „Querdenker

Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.

Querdenker – Ein Loblied auf den Störenfried



Sie sind eigensinnig, unbeirrbar und kochen lieber ihr eigenes Süppchen. Weil sie sich dem Mainstream widersetzen, werden sie ausgegrenzt, riskieren Karriere und Ansehen. Dabei brauchen wir Querdenker: Gerade weil sie nerven, helfen sie uns, die Welt zu verstehen




Von Jürgen Schaefer, Geo, 01.02.2010



Querdenker können nichts dafür: Eine Idee befällt einen Menschen wie eine Geisteskrankheit. Unter ihrem Einfluss beginnt seine Realität sich zu verformen, bis der Betroffene Dinge sieht, die niemand vor ihm sah.

Gekrümmte Räume. Einen Seeweg nach Indien. Das Äffische im Menschen.

Spätestens dann sollte er in Gesprächen vorsichtig sein. Je größer ein Gedanke, desto größer die Einsamkeit in seinem Gefolge. Manche Idee wird zum Parasiten, der sich eines Menschen bemächtigt, ihm alle Energie, alle Zeit, sein Leben abverlangt.

Forscher streben ihr Schaffen lang nach dem einen, nach ihrem genialen Gedanken. Doch ihm zu folgen erfordert Mut: Es ist, wie auf einen fahrenden Zug aufzuspringen, ohne zu wissen, wohin er fährt. Nach Stockholm? Oder nach Sibirien?

Nobelpreis oder Verbannung? Für die Geologin Gerta Keller bleibt die Frage offen. Seit 25 Jahren schlägt sie ihr Geologenhämmerchen an einem granitharten Dogma stumpf. Für manche hat sie das zur Heldin gemacht. Für die meisten ihrer Kollegen ist sie eine Nervensäge.

Keller sieht aus, als hätte sie sich seit Woodstock nicht mehr umgezogen; gelb getönte Brille, Flatterbluse, graue Spaghettilocken. Sie stammt aus Liechtenstein und spricht Englisch mit einem knarzenden Schweizer Akzent. „Absolute Wahrheit“, sagt sie, „gibt es nur in der Mathematik. In der Geologie dagegen hilft nur, neugierig zu bleiben. Offen für Neues.“

Keller lehrt an der amerikanischen Princeton-Universität, auf einem Campus wie ein englisches Schloss, mit Sandsteintürmchen und Schindeldächern. Die Büsche im Park werden mit der Schere getrimmt. Im Innern quietschen Eichentüren; ein Ort, an dem seit Generationen Geologen versteinern. Im Erdgeschoss verstaubt ein Dinosaurierskelett. Die Frage, warum diese Riesenreptilien ausgestorben sind, galt unter Geologen lange als geklärt. Bis Gerta Keller kam.

Jedes Kind kennt die Geschichte: Vor 65 Millionen Jahren stürzte ein Monstermeteorit auf die

Erde. Er schlug im Golf von Mexiko einen 180 Kilometer breiten Krater und wirbelte so viel Staub auf, dass sich der Himmel verdunkelte. Pflanzen verwelkten, die Dinos verhungerten.

„Eine attraktive Idee, sexy und einfach zu begreifen“, räumt Keller ein. Lächelt. „Aber leider falsch. Das haben wir längst bewiesen.“ Für die Demission der Dinos, glaubt sie, waren massive Vulkanausbrüche und Meteoritenschauer verantwortlich. Das Sterben zog sich über zwei Millionen Jahre hin. Spekulationen über einen jahrelangen Winter, der dem Meteoriteneinschlag folgte, wären damit hinfällig. Immer wieder hat es in der Erdgeschichte Massensterben gegeben; die Frage nach deren Warum müsse komplett neu gestellt werden, sagt Gerta Keller.

1985 präsentierte sie ihre Theorie auf einem Geologen-Kongress. „Ich wurde als ‚George Keller‘ angekündigt, so unbekannt war ich.“ Das sollte sich ändern. „Schon bei der Einleitung standen die ersten am Saalmikrofon Schlange, um zu widersprechen.“ Kellers Vortrag ging im Geschrei der Gegner unter.

„Ich dachte: Ach du Scheiße!“, erinnert sich Gerta Keller. „Aber es kam alles noch schlimmer.“ Inzwischen weiß sie, was der irische Dramatiker George Bernard Shaw gemeint haben könnte, als er 1917 schrieb: „Am Beginn jeder großen Wahrheit steht immer eine Gotteslästerung.“

Kellers Gegenspieler war Luis Alvarez, Nobelpreisträger. „Einer dieser Männer, die glauben, sie könnten über Wasser gehen“, spottet Keller. Ein zorniger Prophet des Meteoriten. „Einmal, auf einem Kongress, stellte Alvarez sich mir in den Weg und sagte: ‚Gerta, nerv uns nicht mit deinen Zahlen. Wir brauchen sie nicht. Wir wollen sie nicht‘ “, erzählt Keller. „Wäre ich da nicht schon unkündbare Professorin hier in Princeton gewesen, hätte das meine Karriere beendet.“


seitdem tobt der streit. Alvarez ist tot, doch die weitaus meisten Geologen unterstützen bis heute seine Hypothese. „Viele sind Mitläufer“, beharrt Keller. Warum ist sie so hartnäckig? Will sie kein Einsehen haben? „Jetzt kann ich nicht mehr aufgeben, dafür ist es zu spät“, sagt sie seufzend.

Die Übermacht der Meteoritenfans ist drückend. Sie sitzen in den Gremien, die Forschungsgelder genehmigen. Sie entscheiden als Experten, ob Kellers Zahlen publiziert werden oder nicht. „Manche Studenten sagen mir: ‚Gerta, ich weiß, dass du recht hast. Aber mit deiner Theorie kriege ich nirgends einen Job.‘ “ Die Gravitation der Masse.

„Im Mittelalter“, sagt Gerta Keller, „hätten sie mich auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“

Querdenker. Querulant. Störenfried: Neugier und Forscherdrang treiben Menschen immer wieder auf die Suche nach dem Neuen. Doch wehe dem, der es findet.

1780 experimentierte Luigi Galvani mit Froschschenkeln und entdeckte die Bio-Elektrizität. Das Establishment verspottete ihn als „Froschtanzlehrer“. Alfred Wegener kam 1910 den sich verschiebenden Kontinentalplatten auf die Spur. Die Geologen höhnten, Wegener sei von der „Polschubseuche“ befallen.

1848 forderte der ungarische Arzt Ignaz Semmelweis, dass Ärzte, nachdem sie Leichen seziert hatten, sich die Hände waschen sollten, bevor sie bei einer Geburt assistierten. In seiner Abteilung sank dadurch die Müttersterblichkeit von zwölf auf zwei Prozent. Seine Kollegen verachteten ihn gleichwohl.


heute wäre so etwas nicht mehr möglich? Erst 1984 entdeckte der australische Mediziner Barry Marshall, dass nicht Stress, sondern Bakterien Magengeschwüre verursachen. Niemand glaubte ihm. In seiner Verzweiflung griff Marshall zum Becher mit dem Bakteriensud, um sich erst zu infizieren und dann selbst zu heilen.

Semmelweis gilt heute als Erfinder der Hygiene; Marshall als Held der Magenkranken. Marshall wurde nach Stockholm eingeladen: Er erhielt, 2005, den Nobelpreis für seine Entdeckung. Semmelweis starb in der Verbannung: im Irrenhaus.

Geniale Ideen retten Leben. Doch dafür braucht es meist einen mutigen Menschen, der bereit ist, seine Idee eigenhändig durch ein Sperrfeuer von Hass und Häme zu tragen. Warum ist das so? Warum machen wir Querdenkern das Leben so schwer? Weil wir uns damit selbst das Leben leichter machen.


Die Macht der Mehrheit ist so stark, dass wir uns beugen, selbst wenn uns niemand zwingt. Das zeigt ein Experiment aus den frühen 1950er Jahren: Wir verraten unsere Überzeugung mitunter, nur um in einer Gruppe nicht -allein zu stehen – selbst wenn wir dieser Gruppe nicht einmal wirklich angehören.

Der Test war kinderleicht: Solomon Asch, Professor für Psychologie an der US-amerikanischen Harvard-Universität, zeichnete auf einen Stapel Papierblätter vier Striche, von denen jeweils zwei gleich lang waren. Als er die Blätter Versuchspersonen vorlegte, waren 99 Prozent von ihnen in der Lage, die gleich langen Striche zu identifizieren.

Dann änderte er den Versuchsaufbau.

Statt einzeln wurden die Probanden nun in Gruppen zum Strichtest geladen. Doch nur einer aus der Gruppe war Versuchsperson; die übrigen waren Eingeweihte, die kollektiv falsche Antworten gaben. Die echten Probanden waren verunsichert – und liefen in Scharen zur Mehrheit über. Nur jeder Vierte blieb standhaft bei seiner richtigen Meinung.

Solomon Asch, exilierter polnischer Jude, sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

Er hatte herausfinden wollen, ob Menschen ohne Not zu Mitläufern werden. Sein Experiment wurde seither Hunderte Male überall auf der Welt wiederholt, immer mit demselben Ergebnis: Wir sind zum Schaf geboren.

Aber was haben wir davon, dass wir uns so leicht unterordnen – statt einfach die Wahrheit zu sagen?

Diese Frage trieb 2005 den Hirnforscher Gregory Berns von der Emory-Universität im US-Bundesstaat Georgia um. Berns, 45, beschäftigt sich seit Jahren mit Querdenkern, die er „Ikonoklasten“ nennt: Bilderstürmer. Auch er wiederholte das Asch-Experiment, ließ dabei das Gehirn des Probanden im Computer-tomografen analysieren. Seine Forschungsergebnisse werfen beunruhigende Fragen auf.


„Das Gehirn ist ein träges Stück Fleisch“, sagt Gregory Berns und grinst. Über den Bildschirm auf Berns’ Schreibtisch flackern Computertomografien. Das Gehirn erscheint als graues Bergmassiv, auf dem bunte Explosionen aufblitzen. Der erste Teil seiner Analyse der Überläufer ist relativ einfach: „Dissens ist anstrengend. Diskussionen sind anstrengend.“

Anstrengung ist allerdings etwas, was unser Gehirn unter allen Umständen zu vermeiden sucht. In Wahrheit wäre die Glühbirne in unserem Kopf, die bis zu 20 Prozent unseres körpereigenen Brennstoffs verbraucht, gern eine Energiesparlampe. Das zeigen Hirnscans: Wenn wir uns zum Beispiel von einem Experten beraten lassen, schaltet unser Gehirn schon mal auf Ruhezustand. „Es ist, als ob wir das selbstständige Denken einfach abstellen“, erläutert Berns, selbst erstaunt über die Ergebnisse.

Noch eindeutiger waren die Beobachtungen beim Asch-Experiment. Bei den Überläufern herrschte Funkstille in Regionen des Frontallappens, wo Entscheidungen getroffen werden. Aktiv waren dagegen Regionen in den Scheitellappen des Gehirns, die mit der Wahrnehmung beschäftigt sind. Berns’ Erklärung: Die Überläufer wurden von ihrem eigenen Gehirn hinters Licht geführt. „Die falsche Antwort der Gruppe projizierte im Gehirn des Probanden ein falsches Bild von den Strichen auf dem Papier.“

Eine perfekte Selbsttäuschung: Den Probanden war gar nicht bewusst, dass sie sich der Übermacht beugten. Aber wenn wir gar nicht merken, dass wir von der Mehrheit erdrückt werden – wie können wir uns dann dagegen wehren? Welchen Wert hat dann unsere Stimme in einer Abstimmung, die von einer Mehrheit dominiert wird?

Wo bleibt unser freier Wille?

„Freier Wille? Das werde ich oft gefragt“, sagt Berns. „Vieles, was im Gehirn passiert, können wir von außen beeinflussen und vorhersagen. Aber es gibt ein Grundrauschen, in das wir nicht eindringen. Das sind plus/minus 20 Prozent. Da steckt für mich der freie Wille.“

Doch wehe, wir machen davon Gebrauch: Dann bestraft uns unser eigenes Gehirn dafür.

Das zeigen die Hirnscans jener Probanden, die sich gegen die Gruppe stellten. Dort registrierte Hirnforscher Berns ein hektisches Störfeuer im Mandelkern. Der Mandelkern sitzt tief im Innern des Gehirns und wird aktiviert, wenn Gefahr droht. Dann setzt er Stresshormone frei: Wir bekommen schweißnasse Hände, der Blutdruck steigt, der Herzschlag beginnt zu rasen.

All das haben Querdenker zu ertragen, wenn sie ihre Stimme erheben. An der Interpretation seiner Computerbilder hat Berns keinen Zweifel: „Das ist Angst, was wir hier sehen.“

Es ist diese Angst, die aus den meisten Menschen Konformisten macht. Aber ist diese Angst überhaupt berechtigt?

„Wir lieben Querdenker! Aber erst, wenn sie mindestens seit 50 Jahren tot sind“, spottet der kalifornische Sozialpsychologe Elliot Aronson, Autor des Standardwerks „The Social Animal“. Dass Dissidenten wie die Geologin Gerta Keller bittere Schmähungen zu ertragen haben, wundert ihn nicht. „Wir mögen es nicht, wenn jemand uns Dinge sagt, die nicht in unser Weltbild passen. Schon in der Antike wurde der Überbringer der schlechten Nachricht getötet.“

Aber wieso sollten wir eine neue Idee überhaupt als „schlechte Nachricht“ interpretieren? Der Soziologe Peter Marris stellte in den 1970er Jahren die Theorie auf, dass Menschen, die sich von ihrem lieb gewonnenen Weltbild verabschieden müssen, echte Trauer empfinden, ähnlich wie beim Verlust eines Angehörigen.

Selbst in der Krise werden wir nicht offener für Neues, im Gegenteil: Nur wenn es aufwärts geht, verspricht Veränderung „Fortschritt“. Geht es abwärts, wird sie als Bedrohung empfunden.

Deswegen meiden wir jene, die radikale Veränderung fordern. Querdenker stören in unserem Streben nach Harmonie wie eine Pauke im Streichquartett. Deswegen müssen sie sich oft entscheiden: entweder von allen geschätzt zu werden und erfolgreich zu sein – oder ihren Weg allein zu gehen.

Wie der Physiker Ronald Mallett. Sein Leben war über Jahrzehnte geprägt von Einsamkeit: „Ich konnte mit niemandem über meine Zeitmaschine reden. Das wäre einfach zu gefährlich gewesen.“


„Eine Reise durch die zeit“ nennt Ronald Mallett das Leben. Die Reise seines Vaters endet

am 22. Mai 1955 in der New Yorker Bronx; er stirbt im Schlaf. Der schwarze Fernsehmechaniker Boyd Mallett hatte Poesie und Opernmusik geliebt, Kette geraucht und wurde nur 33 Jahre alt. Er hinterlässt eine Frau und vier Kinder. Ronald kann den Tod des Vaters kaum verwinden. Bis ihm ein Comicbuch in die Hände fällt, die Nr. 133 der Reihe „Classics Illustrated“: „Die Zeitmaschine“, von H.G. Wells.

Das Titelbild zeigt ein fliegendes Motorrad mit Schläuchen und Kabeln, auf dem ein Mann sitzt, der das Gefährt an zwei Hebeln durch Raum und Zeit steuert. Ronald Mallett ist zwölf Jahre alt, er geht in den Keller und öffnet die Werkzeugkiste seines Vaters. Aus alten Röhren, Schläuchen und Isolierband bastelt er abendelang an einer Maschine, die der Zeichnung ähnlich sieht. Als er fertig ist, zieht er am Hebel. Nichts

passiert. „Ich war enttäuscht“, erinnert sich Mallett, „doch nicht entmutigt.“

Als Teenager versucht er, Einstein zu lesen, „bis ich Kopfweh bekam“, schließlich studiert er Physik, wird habilitiert. Für all dies, sagt Ronald Mallett, hat es nur einen einzigen Grund gegeben: den Traum, zurückzugehen in die Bronx, vor dem 22. Mai 1955, um seinen Vater zu warnen. „Geh zum Arzt“, will er ihm sagen, „und hör auf zu rauchen.“

Mallett ist heute 64 Jahre alt, doch er hat noch immer Mühe, seine Gefühle zu kontrollieren, wenn er von seinem Vater erzählt. Er hat dessen Grab nie besucht. Er will sich mit der Finalität des Todes nicht abfinden.

In all den Jahren verliert er sein Ziel nie aus den Augen. Entwirft, in nächtelangen Kalkulationen zur Musik von Wagners „Ring des Nibelungen“, eine Apparatur, der es gelingen soll, subatomare Partikel auf eine Zeitreise zu schicken, ohne dabei mit Einsteins Relativitätstheorie zu kollidieren. Die Zeitmaschine besteht aus zwei gegenläufigen ringförmigen Lasern, in deren Energiefeld Raum und Zeit so weit gekrümmt werden, bis eine Zeitspirale entsteht. Jedenfalls auf dem Papier, in den kunstvoll ersonnenen mathematischen Gleichungen.


jahrzehntelang hält Mallett die Forschung geheim: „Es war schwer genug, als Afroamerikaner eine Professur für Physik zu bekommen“, sagt er. „Das Thema ‚Zeitreise‘ anzusprechen wäre professioneller Selbstmord gewesen.“ Im April 2001 wagt sich Mallett an die Öffentlichkeit. „Es hat lang gedauert, die Furcht zu überwinden, dass Kollegen mit dem Finger auf mich zeigen und sagen: ‚Der ist nicht ganz dicht!‘ “, sagt Mallett. Doch inzwischen wurde er an der University of Connecticut zum Professor für Theoretische Physik berufen. Auf einem Kongress in Michigan präsentiert er seine Kalkulationen. Er sieht, wie die Kollegen gleich anfangen, eifrig mitzuschreiben.

Gespannt wartet er auf die Reaktion. Aber es ist wie damals, als er am Hebel jener Apparatur gezogen hat, die er sich als Junge im Keller gebastelt hatte: Nichts passiert.

„Das Publikum reagierte verhalten“, erinnert sich Mallett. Seitdem kommt er nicht mehr voran. „Wir bräuchten zehn Millionen Dollar, um die Theorie in einem ersten Versuch zu testen“, schätzt der Physiker, „doch wenn wir uns um Forschungsgelder bemühen, heißt es nur: Nett! Interessant! Aber für uns leider nicht ernsthaft genug.“

Ist Ronald Mallett ein Querdenker oder einfach nur ein Träumer? Ein genialer Kopf, der am verbohrten Establishment scheitert? Oder der Beweis dafür, dass die Qualitätssicherung in der Forschung funktioniert? An den Grenzen der menschlichen Erkenntnis warten ja nicht nur spektakuläre Entdeckungen – dort sprießen, in einem Biotop aus Wahnsinn, Verzweiflung und Verschwörung, auch schillernde Theorien.


Die geologin Gerta Keller, unfreiwillig zur Schutzpatronin aller Dinosaurier-Dissidenten aufgestiegen, bekommt seitenlange Traktate mit Szenarien über den Untergang der Riesenechsen zugeschickt. Ein Arzt schreibt ihr, Eierdiebe seien der Grund: Die Saurier waren unfähig, ihr Gelege zu vergraben. Der Mediziner hat die Theorie experimentell getestet und dies auf Fotos dokumentiert: Er hat Hühnereier am Strand ausgesetzt. Jene in offenen Nestern waren am nächsten Morgen weg, die eingegrabenen noch da. Was zu beweisen war!

„Nicht jeder Spinner ist ein Querdenker. Wer nicht im Wissen zu Hause ist, kann nicht quer-denken“, wagt der Berliner Einstein-Biograf Jürgen Renn eine Definition. Renn beschäftigt sich am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte mit der Frage, wie das Neue in die Welt kommt. „Wie funktionieren wissenschaftliche Revolutionen? Querdenker sind ein wesentlicher Moment dieser Entwicklung; sie spielen eine Rolle bei der Entstehung neuer Perspektiven.“

Perspektivenwechsel – oft ist es nur ein neuer Blick auf Bekanntes, der eine Umwälzung in Gang setzt: Der Astronom Johannes Kepler bediente sich, als er die Laufbahn des Mars untersuchte, der Beobachtungen seines Widersachers Tycho Brahe. Doch anders als Brahe konnte Kepler die scheinbar erratische Bahn erklären, indem er mit einer mehr als tausendjährigen Tradition brach und die Bahnen der Himmelskörper nicht als Kreise, sondern als Ellipsen auffasste.

Für Brahe und die meisten Zeitgenossen war schon die Idee von Kopernikus, zwar bei der Kreisbahn zu bleiben, aber die Sonne ins Zentrum des Weltsystems zu rücken, zu wild, um wahr zu sein – dabei war sie schon 1800 Jahre alt. Der griechische Astronom Aristarch von Samos hatte bereits im dritten Jahrhundert vor Christus herausgefunden, dass die Erde um die Sonne kreist. Doch sein Weltbild wurde verworfen und dann vergessen.

Das richtige Timing ist entscheidend für den Erfolg einer neuen Idee. „Die historische Situation muss den Perspektivwechsel zulassen“, erklärt Historiker Renn, der Querdenker in drei Kategorien sortiert: die Viel-zu-Frühen, deren Denken wirkungslos verpufft, wie Aristarch. Dann die Visionäre, die zwar angefeindet werden, deren Ideen sich aber später durchsetzen, wie Kopernikus. Und die Ruhmreichen, die genau zur richtigen Zeit kommen. „Hätte Einstein seine Relativitätstheorie 50 Jahre früher aufgestellt, wäre er im Irrenhaus gelandet“, vermutet Renn. Querdenker sind, bei aller Genialität ihrer Einzelleistung, eben auch ein Produkt ihrer Zeit – und damit nicht unersetzlich: Das zeigen Mehrfacherfindungen wie das Telefon und die Glühbirne. Ein Paradigmenwechsel ist meist nicht an einen bestimmten Helden gebunden. Die Industrielle Revolution hätte auch stattgefunden, wenn James Watt nicht die moderne Dampfmaschine erfunden hätte.


Doch wie lässt sich überhaupt erkennen, ob eine Idee genial ist – oder genial daneben? Und wer soll das entscheiden? Für die allwissende Nachwelt ist es einfach, Galileo für genial zu halten. Die Zeitgenossen in ihrer Froschperspektive konnten nicht wissen, ob der Astronom nicht doch in Wahrheit ein Märchenerzähler war.

„Nature“, eines der weltweit wichtigsten wissenschaftlichen Journale, vertraut bei der Unterscheidung zwischen „Geistesblitz“ und „Irrlicht“ auf den Sachverstand seiner rund 30 Redakteure und auf das System der peer review, bei dem -Experten aus dem jeweiligen Feld eingereichte Arbeiten begutachten.

95 Prozent aller Thesenpapiere werden abgelehnt – die meisten übrigens nicht, weil sie zu revolutionär sind, sondern weil sie zu wenig Neues bieten.

Auch Forschungsgelder werden stets erst nach einem Expertengutachten vergeben. Das stellt sicher, dass kein Geld in einen Spinner investiert wird, der Hühnereier am Strand vergräbt. Doch gibt es wohl kaum einen Wissenschaftler, der nicht schon einmal an der Peer Review verzweifelt ist – nicht nur profilierte Dissidenten wie Gerta Keller und Zeitmaschinenbauer wie Ronald Mallett.

Auch die Erfinder des Rastertunnelmikroskops scheiterten zunächst, weil ein Experte ihre Arbeit „nicht interessant genug“ fand. Das Nobelpreiskomitee war einige Jahre später anderer Meinung.

Das System der Peer Review ist per Definition fortschrittsfeindlich: Als Maßstab für die Zukunft gilt der Status quo. Manche Experten, die zur Begutachtung neuer Ideen herangezogen werden, haben ihr Forscherleben in eine Theorie investiert – die durch das Thesenpapier auf ihrem Schreibtisch infrage gestellt wird.

Die Meteoritentheorie hat Luis Alvarez weltberühmt gemacht, doch setzen sich Gerta Kellers Thesen durch, wird Alvarez’ Porträt aus der Ruhmeshalle der Geologie in den Keller verbannt, in dem die staubigen Gesteinsproben lagern. Mit solch einer Herausforderung tun sich nicht nur Wissenschaftler schwer: „Dieser Junge hat überhaupt kein Talent! Sagt ihm, dass er mit dem Malen aufhören soll“, räsonierte der Maler Édouard Manet, einer der letzten Realisten, über Pierre-Auguste Renoir, den frühen Impressionisten.

In der Wissenschaft führt das Expertensystem zu einer „gewissen inneren Trägheit“, wie Historiker Jürgen Renn attestiert – die aber nicht nur schlecht ist: „Intelligente Systeme wachsen durch Erfahrung. Dass dabei die Masse des Bekannten über das Neue überwiegt, gibt dem System Stabilität.“

Das gilt auch für das „intelligente System Mensch“, das sich nicht beliebig verändern kann. Wer heute an Gott glaubt, morgen an Darwin und übermorgen an Ufos, wird nicht ernst genommen. Und eine Wissenschaft, die sich von jeder neuen Nachricht in ihren Grundfesten erschüttern ließe, wäre als Instrument zum Verständnis der Welt bald nutzlos.

Die Kunst liegt darin, sicher zu stehen und zugleich beweglich zu bleiben. Die Wissenschaft muss Antworten geben – ohne aufzuhören, weiter Fragen zu stellen.


gefahr droht, wenn ein intelligentes System erstarrt – etwa, wenn eine wissenschaftliche Disziplin von einem Dogma dominiert wird wie eine Sekte. Sozialpsychologen nennen dieses Phänomen „Gruppendenken“: Die Gruppe lebt abgeschottet von der Realität, sucht nur noch Bestätigung für das Dogma. „Konsenswächter“ stöbern Querdenker auf und bekämpfen sie. Die Erstarrung führt schließlich zum Versagen des Systems. Zum Beispiel, wenn die Elite der Ökonomie in autistischer Weltabgeschiedenheit eine Zukunft ohne Rezessionen herbeirechnet, während sich vor ihren Augen die schlimmste Finanzkrise seit 80 Jahren entfaltet.

Wer den Wirtschaftsweisen widersprach, wurde ausgegrenzt. Wie etwa der Ökonom Nouriel Roubini, der schon 2006 zu fragen wagte, wann die Immobilienblase in den Vereinigten Staaten platzen werde. Seine Kollegen verspotteten ihn als „Dr. Doom“, „Doktor Untergang“.

Da waren Konsenswächter am Werk: Wer sich seiner Antwort zu sicher ist, duldet keine Fragen mehr. Denn Fragen sind gefährlich: Sie können Autorität zerstören, können Denkmäler stürzen, Denkblasen zerplatzen lassen. Fragen sind die schärfste Waffe des Querdenkers.

Werden Computer erst dann intelligent, wenn sie anfangen, Sex zu haben? Brauchen wir eine neue Physik, um die Navigation von Brieftauben erklären zu können? Sind Ureinwohner meist kriegerisch und obendrein noch Umweltschweine?

„Mit oder ohne Zucker?“ Glucksend schiebt John Brockman seinem Besucher einen Espresso

über den Glastisch. Über die Macht der Fragen kann er stundenlang diskutieren. Mit den richtigen Fragen zur richtigen Zeit hat er es zu Ruhm und Reichtum gebracht: Als Literaturagent wissenschaftlicher Shootingstars und von Nobelpreisträgern. Büro an der New Yorker Fifth Avenue, Landhaus in Connecticut.

Er tritt im weißen Panamahut auf und nennt sich „Impresario“. Doch seine unruhigen Augen betrügen die große Geste. Er macht den Eindruck eines Menschen, der sich danach sehnt, dass ihm sein Hirn einmal Ruhe gönnte. So viele Fragen!

Gibt es eine göttliche Wissenschaft? Sollen wir die Schule abschaffen? Ist es egal, wie Eltern ihre Kinder erziehen?

Fragen sind das Hämmerchen, mit dem wir klopfend die Statik der Stützpfeiler prüfen, auf denen wir unser Weltbild errichten. Hält das Gemauerte? Oder klingt es doch ziemlich hohl?

1991 beschrieb John Brockman in einem Essay eine Bewegung, die er third culture nannte, und forderte eine neue intellektuelle Kultur. Der Dialog aller Wissenschaften soll Forscher zwingen, ihr Spezialistenghetto zu verlassen, die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten: Es ist der Versuch, Querdenken als Prozess zu definieren, nicht als individuelle Gabe. Seitdem streiten sich unter dem alten Ahornbaum hinter Brockmans Landhaus regelmäßig Geologen mit -Genetikern, Psychiater mit Informatikern, Kernforscher mit Evolutionsbiologen über die letzten Menschheitsfragen.

Sollte das elitär klingen, ist das durchaus gewollt. „Wenn wir ehrlich sind, übernehmen auf der Welt doch sehr wenige Menschen die Denkarbeit für den Rest von uns“, sagt Brockman. „Es ist nicht leicht, einen genialen Gedanken zu haben. Manche haben einen einzigen in ihrem Leben. Die meisten haben nie einen.“ Die Stärke der dritten Kultur, glaubt Brockman, liegt darin, dass sie den Streit darüber aushält, welche Ideen ernst zu nehmen sind. Ihre Tugend ist die Aufgeschlossenheit gegenüber allem Neuen. Aber darf man wirklich alles fragen? Manche Fragen sind schwer auszuhalten, wie die Sonde eines Zahnarztes, die tastend nach einer Stelle sucht, an der sie Schmerz verursacht.

Wird Homosexualität durch eine Infektionskrankheit ausgelöst? Haben schwarze Männer -einen höheren Testosteronspiegel als weiße? Leidet die durchschnittliche Intelligenz der Menschen in westlichen Ländern darunter, dass dumme Menschen mehr Kinder haben als kluge?


„gefährliche ideen“ nannte der Psychologe Steven Pinker diese Fragen, mit denen er 2006 das „Edge“-Jahrbuch eröffnete – „gefährlich nicht, weil sie falsch sind, sondern weil sie wahr sein könnten“. Pinker verteidigt die Rechte des Häretikers. „Wenn eine Idee wirklich falsch ist, muss man sie ans Licht bringen, um

das zu erkennen.“

Unter dem Schutz dieser Freiheit sprießen auf der Edge-Spielwiese auch Gewächse, deren Genuss manchem Schwindel und Übelkeit verursachen. Biochemiker Craig Venter fantasiert darüber, dass es wünschenswert wäre, das menschliche Genom zu manipulieren. Und der Physiker Freeman Dyson schreibt, dass

alle Szenarien zum Klimawandel „total übertrieben“ seien.

Muss man wirklich alles infrage stellen? Was, wenn Querdenker den Fortschritt aufhalten? Alle nerven und alles blockieren? Gerade dann sind Querdenker unverzichtbar, sagt die kalifornische Psychologin Charlan Nemeth eindringlich. Denn dann können sie sogar Leben retten.

Zwölf Männer sitzen zu Gericht über einen jungen Einwanderer aus Puerto Rico, der seinen Vater erstochen haben soll. Seit Stunden sind sie in ihrer Kammer eingeschlossen, und die Mehrheit weiß längst, was sie will: Der 18-Jährige soll hingerichtet werden. Nur der Geschworene Nummer acht stellt sich quer. Er sät Zwei-fel an den Beweisen, zwingt die Runde zur Diskussion. Nach und nach gelingt es ihm, alle anderen zu überzeugen. Am Ende wird der junge Mann freigesprochen.

Sidney Lumets Filmklassiker „Die zwölf Geschworenen“ (mit Henry Fonda in der Rolle der Nummer acht) von 1957 veranschaulicht dramatisch, welchem Druck Querdenker in einer Gruppe ausgesetzt sind – und welche Macht sie haben.

Daran hat sich bis heute nichts geändert, sagt Charlan Nemeth, die seit 30 Jahren an der Univer-sity of California in Berkeley bei San Francisco Rebellenforschung betreibt: „Wer eine Minderheitenmeinung vertritt, wird abgelehnt und verspottet. Der Mehrheit ist nicht bewusst, dass sie dem Querdenker eigentlich dankbar sein sollte.“

Nemeth hat die Entscheidungsfindung bei Geschworenen erforscht und festgestellt, dass Für und Wider eines Schuldspruchs ernsthafter abgewogen werden, wenn sich die Gruppe uneins ist.

Sind sich alle einig, wird „konvergent“ gedacht: Es werden vorwiegend Argumente diskutiert, die den Konsens stützen. Querdenker stimulieren dagegen „divergentes Denken“ und Kreativität; regen dazu an, ein Problem von allen Seiten zu betrachten.

Das nützt der Gruppe auch dann, wenn die Minderheitenmeinung falsch ist. „Rebellen erhöhen eindeutig die Qualität einer Entscheidung.“

In der Realität wird dies selten so gesehen. „Viele Organisationen fordern Ideenreichtum, doch sie belohnen Anpassung.“ Egal ob an Universitäten oder in Unternehmen, Nemeth registriert eine Verschiebung im Diskurs: „Früher wurden Konformisten als Schafe wahrgenommen, als Herdentiere. Heute nennen wir dasselbe Verhalten ‚Teamgeist‘.“ Widerstand gegen die Mehrheit wird als hinderlich empfunden.

Wer aber Kreativität fordert, braucht eine „Dissens-Kultur“, in der Abweichler respektiert und geschützt werden, sagt Nemeth. Etwa durch das Prinzip der Einstimmigkeit, bei dem ein Beschluss erst feststeht, wenn alle zustimmen. Querdenker können dann nicht mehr als „Wichtigtuer“ abgekanzelt werden. Sie müssen in die Diskussion einbezogen, ihre Argumente gehört werden. Streit um des Streitens willen lohnt jedoch nicht: „Rollenspiele mit einem Advocatus Diaboli funktionieren nicht.“ Nur ein echter Querdenker, der das Gewicht seiner persönlichen Integrität in die Waagschale wirft, provoziert echte Nachdenklichkeit: „An einem Märtyrer kommt man nicht so leicht vorbei.“

Werden wir zum Märtyrer geboren – oder dazu gemacht? Die Geologin Gerta Keller sagt, sie hatte nie die Absicht, ihre Karriere dem Streit über das -Ende der Dinosaurier zu opfern. Wie hat sie trotzdem so lange durchgehalten?

„Ich stamme aus den Schweizer Bergen“, sagt sie. „Streitbares Bergvolk. Wir sind dickschädelig.“ Sie lacht. Früher hat sie die Auseinandersetzung belastet, heute wirkt sie federleicht.

Was macht Menschen zu Querdenkern? Die Psychologin Charlan Nemeth hat über drei Jahre hinweg Nobelpreisträger für Physik und Chemie beobachtet und interviewt, um dem Geheimnis ihrer Genialität auf die Spur zu kommen. „Eine große Unabhängigkeit“ macht sie als herausragendes Charaktermerkmal aller aus: „Sie wussten schon als Kind, dass Lehrer sich irren können. Sie gehen ihren Weg, und es ist ihnen egal, dass die Mehrheit glaubt, sie würden ihre Zeit verschwenden.“

Der wichtigste Wesenszug aber ist die Lust, hinter die Dinge zu schauen. „Neugier kann ein phänomenaler Quell des Glücks sein“, glaubt Charlan Nemeth, „weil sie unsere Welt immer ein Stück größer werden lässt.“

Aber Neugier, die Tugend der Kinder, kann uns teuer zu stehen kommen: Sie verlangt von uns den Mut, den sicheren Boden der eigenen Weltgewissheit aufzugeben und sich einem schwankenden Schiff anzuvertrauen, ohne zu wissen, wohin der Wind es treiben wird. Neugier ließ Christoph Kolumbus über den Atlantik segeln.

Vielleicht ist es das, was Querdenker auszeichnet: Sie sind mutig genug, ihrer eigenen Neugier zu folgen.



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Jürgen Schaefer


Jürgen Schaefer, Jahrgang 1965, war Redakteur bei der Allgäuer Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten, bevor er Korrespondent für die Reportage-Agentur Zeitenspiegel wurde: fünf Jahre in New York und anschließend vier Jahre in Havanna. Seit 2005 ist er Redakteur bei GEO in Hamburg.
Dokumente
Querdenker

erschienen in:
GEO,
am 01.02.2010

 

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